Nebelschwaden

13.10.2002
 
Sonntag?
Annemarie Roseck. 36. Gebärmutterkrebs. Tod. Grau-grüne Augen. Dunkelblondes Haar. Nette Figur. Hätte sie die Wahl gehabt… Wie hätte sie entschieden? Wie würden sie entscheiden? Ich sitze vor der Balkontüre und blicke in das Nichts hinaus. In meiner Wohnung ist es dunkel. Das liegt nicht daran, dass ich das Licht gelöscht habe, sondern daran, dass ich schon so lange hier vor der Scheibe verharre. Ich habe gesehen, wie die Sonne klammheimlich untergegangen ist.
Ich habe beobachtet, wie das Dunkel leise und unaufhaltsam über die Welt gekommen ist.
Und jetzt verfolge ich…beinah gebannt…wie der Nebel dicker wird und alles in Stille hüllt. Nebelschwaden die über die Straßen und Gärten kriechen.
Meine… Klientin… Liegt schweigend in ihrem Sarg. Im Hause Denk.Weich sieht sie aus…friedlich. Ist sterben schön? Macht tot sein glücklich?
Ich vergewaltige sie, sagte Christopher damals, als er mich zum ersten Mal sah….oder mir zum ersten Mal begegnete… Oder… Egal… Langsam… Langsam verstehe ich was er meint.
Gleichgültig in welchem Zustand sie zu mir kommen..die Toten. Wenn sie mich verlassen…sind ihre Gesichter rein…ihre Mimik zufrieden. Ihre Kleidung perfekt. Ich entferne ihren Tod aus ihrem Anglitz. Wasche ihre Geschichten weg. Lasse sie scheinen wie sie nicht sind.. Nur schlafend.
Ha. Wie sich die Verwandten freuen würden. Wenn es tatsächlich geschähe..dass sie aus ihrem Schlaf erwachten. Seit ich… SIE…die Kainiten kenne. Hat sich..auch meine Arbeit..nun ja verändert… Mein Chef hat es nie beobachtet, denn ich bin ein kluges Kind…aber bevor ich die Toten bearbeite, halte ich ihnen Feuer unter die Nase..und auch einen Pflock hab ich mir für die Arbeit zugelegt. Selbstschutz sozusagen.  Weiß man denn, ob da auch jeder sicher ..richtig Tod ist? Und was wenn mir einer vor der Nase aufsteht? Und dann noch Durst hat? Schutz? Ich weiß nie, ob gerade jemand hier ist, oder ob ich allein bin. Passt Gonzo noch auf mich auf, obwohl ich…keine Giovanni zu werden gedenke? Leichenwäscher, wird eine sehr surreale Aufgabe, wenn man seine freie Zeit mit Untoten verbringt. Ich seufze und beobachte wie mein Atem an der Glastür anschlägt. Ist es so kalt hier? Oder ist mein Atmen so warm..so heiss? Verbrenne ich innerlich?
Mein Kopf fällt nach vorne, so dass sich meine Stirn an das kühle Glas drückt.
Links und Rechts jeweils meine Hand, als ob es draussen etwas zu sehen gäbe.
Seltsam im Nebel zu wandern, mit soviel Gefühl ich Bauch.
Ich würde gerne durch den Nebel wandern, doch ich wage es nicht. Nicht dass ich hier im Haus sicherer wäre. Wissen sie eigentlich wo ich zu finden bin? Ich mein ..jeder?…auch…die freundliche Familie Ponte…oder der Sohn…expliziet. Wenn der mich allein erwischt… Dann kann mir auch Gott nicht mehr gnädig sein. Und wer glaubt schon an Gott?
Was Katinka wohl gerade tut? Ich suche ihr Gesicht im Nebel. Aber keine Spiegelung in der Fensterscheibe. Keine dünne Stimme die mich fragt, ob ich nicht mir ihr kommen möchte. Aber allein bin ich nicht. Nicht wieder. Nie wieder…. Solange ich nur werden kann, was sie ist. Und so sehr sie sich dafür….hasst? …. Ich liebe sie dafür…denn nichts anderes war für mich geplant. Ich bin mir sicher. Oder?
Durch den Garten huscht ein weisses Kätzchen und ich sehe die Bilder eines Lebens vor meinem inneren Auge…oder sind es die Bilder eines Traumes… Es sind Bilder, dass reicht. Ich stelle mir vor…wie so ein Gangrel, ein süßes kleines weisses Kätzchen wird und kichere leise.
Komm…miez miez miez.
Bleib lieber weg….husch husch husch.
Ich war in Katinkas Kopf…wer sonst hat schon so wirre Gedanken. Hänsel und Gretel und die böse Hexe. Schneeweisschen und Rosenrot verjagen Schneewittchen.
Ich drehe und wende meinen Kopf leicht und kühle meine Wangen sorgsam.
Aus dem Nebel springt Wolfensteins Fratze auf mich zu und ich schrecke zurück. Er wollte mich töten. Und ich hätte da gestanden wie ein Opferlamm, wäre nicht zurück gewichen, wenn sie mich nicht geschoben hätten. Mich beschützt hätten. Die Verrückten. Malekin. Katinka. Lyra. Der Seneschall. Vertraue niemanden. Vertraue allen. Wer bin ich?
Anna Toth.
Aber wenn ich nicht bald Malekin werde, verliere ich mich. Manchmal sind es Stunden, in denen ich unbeweglich verharre, weil ich einen Gedanken zu Ende denken MUSS. Zwingend. Oder weil etwas…das ich schon tausenmal gesehen habe…so wunderschön ist.. Das es mir faktisch den Atem raubt.
Sonnentau. In meinem Bad steht Sonnentau. So wundervoll. Kleine Tropfen, auf den einzelnen Häarchen. Kleine zappelnde Leiber, die daran festkleben. Um ihr kurzes Leben fürchtend. Und wenn man nur genügend Geduld hat, kann man beobachten, wie sich die Blätter langsam einrollen…um das Opfer herum. Eine Spinne in grün ,die ihre Mahlzeit einkreist.
666 is the Number of the Beast.
Beauty and the Beast. Doch…ich verstehe Katinka. Es liegt soviel Wahrheit in jedem Märchen, dass man niemals aufhören sollte sie zu lesen. Wann habe ich das letzte Mal eines gelesen?
Ich verstehen Katinka. Was sagt das über mich aus?
Ich betrachte im Fenster wie mein Gesicht  zu lächeln beginnt. Ich bin stolz. Ich bin stolz, sie kennen zu dürfen. Und sie würde mich für derartige Worte verrückt rufen. Sie liebt Malekin und fürchtet ihn. Streng ist er, sagte sie mal. Und sie ist Malekin und ich fürchte es nicht… Wie dumm von mir…oder?
Die Hobbypsychologen Stimme in meinem Kopf flüstert etwas von Mutter ersatzt, Mutter liebe die ich nie fühlen durfte…und ich könnte mich scheps lachen. Welche Mutter würde ihr Kind denn schon töten? Ob sie den Prinzen schon gefragt hat? Denkt sie an mich? Vermisst sie mich? Warum…bin ich noch immer hier, in meinem Haus..und nicht bei ihr? Wäre ich nicht sicherer bei ihr… ? Würde sie mich..bei sich haben wollen?  Es ist so völlig seltsam. Ich fühle, und weiß dass ich schon ihr gehöre..schon zu ihr gehöre. Dass mich……nichts..(Nichts?) Davon abhalten könnte. Ausser vielleicht… Sie… 
Ich blicke in den Nebel..sehe Malekin et Katinka et Malfeis…wie sie sich an den Händen halten. Ihre Blicke nach oben gerichtet… Vereint..als gehörten sie zusammen. Und der Anblick ist…genauso richtig..wie er mir falsch scheinen will. Malekin und Katinka sind eine Generation.
Nur einer in jeder Generation. Ich erinner mich als ich es hörte, bei der Geisterbeschwörung. Als Tinka erzählte, vom Fluch der Malekin. Der Grund warum ich niemals Malekin sein könnte.
Die zwei, die eins sind, sind einer zuviel.
Wie absurd.
Wen würde ich mehr vermissen? Wer steht mir näher am Herzen? Was kann man tun? Könnte ich?..Alles …alles würd ich geben..oder?
Es fröstelt mich. Möchte ich den Wald im ganzen sehen?
Ist das ein Angebot?
War es ein Angebot?
Wie gut…. Wie mächtig ist er wirklich?
Die Zeit verrinnt.
Tick. Tack.

 

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