Dornröschen mal Anders

Hundert Jahre sollst du schlafen.
Hundert Jahre hast du Zeit.
Hundert Jahre sollst du Leiden,
Nach hundert Jahr' wirst du befreit.

Sie sieht mich nicht. Aber ich…ich habe sie schon lange wahrgenommen. Sie verinnerlicht. Ihr Körper ist nur ein Abbild. Der Raum der ihr wahres Sein beherbergt. Mehr nicht. Sie hat gelernt ihn zu verachten, weil die Oberfläche den Betrachter dazu verführt nicht ins Innere zu blicken…sich blenden lassend. Wie dumm sie alle sind.
Vergessend sich selbst zu lieben, hat sie sich Fesseln angelegt. Ich weiß…es gab eine Zeit…als ihr ein Rosengarten geschenkt wurde… In dem sie glücklich war. Aber der Gärtner hat sie und die Rosen zurückgelassen…und beide verdorrten…und zurück blieben nur die Dornen. Viele Dornen.
Es mag sein…dass sie einst versuchte..diese Mauer zu überwinden…doch jedesmal, wenn sie die Hand ausstrecke…bohrten sich die Spitzen in ihre zarte Haut und zwangen sie abzulassen. Und wieder lernte sie. Schmerz ist ein guter Lehrmeister…nein? Schließlich wurde ihr Gefängnis…ihr zu Hause. Ihr Leben. Alles was sie hatte. Die Dornen wurden ihre Wächter…hinderten sie nicht am fliehen…sondern Andere am eindringen.
So ist es seit jener Zeit. Und ich?
Mich sieht sie nicht. Mich liebt sie nicht. Wie soll man jemanden anderen lieben, wenn man sich nicht selbst lieben kann?
Schön ist sie wahrhaft. Aber das ist es nicht was mich berührt. Ich bin kein Betrachter…ich bin ein Beobachter. Und ich beobachte sie…schon so lange. Die Sanftheit, mit der sie manchmal ihre Kopf wendet… Und ihre tiefen Dunklen Augen..in denen all ihr Leid zu lesen ist…für diejenigen die gewillt sind zu lesen. Und noch mehr. Wenn ich mir nur gestatte..tief genug hinein zu sehen…mich fallen lassend…finde ich die Reste ihres Wesens. Rein, wie der Zauber der Einhörner. Tausenmal schöner, als jede Hülle. Begehrenswerter, als alles was ich mit meinen Augen zu sehen vermag.
Wahre Schönheit bleibt dem Auge verborgen..nein?
Doch..sie sieht mich nicht.
Sieht nicht, wie ich leise lächle wenn sie in meiner Nähe ist.
Sieht nicht, wie meine Wangen sich röten..und meine Hände beben.
So gerne würde ich sie berühren…nicht ihren Körper..sie. Möchte sie fühlen lassen…das SIE wunderschön ist… Möchte sie vergessen lassen, was sie an sich hasst…weil ich sie dafür liebe.
Ihre Art zu sein..ihr Wesen…trifft mich im Innersten. Und Dinge, die einen bis ins Innerste berühren, verlieren sich nicht. Also habe ich Zeit.
Wenn sie sich nicht lösen will, aus ihrem Heim..so will ich ihr geben, was ich ihr geben kann.
Geduld und Hingabe.
Ich will ihre Dornen liebkosen…mich daran stechen und kratzen…bis ich blute…und mein Blut wird zu Boden fallen und in der verdorrten Erde versinken…auf die Wurzeln treffen..und sie nähren. Ich werde mich selbst darin verlieren…aufgehen…und wachsen.
Bis nichts mehr von meiner Selbst über ist…bis alles von mir in den widerborstigen Gestrüpp verschwunden ist. Und dann…
Dann werde ich sie umgeben…und ich werde wachsen…ich werde ihr Garten sein

Noch immer voller Dornen..aber ihr ganz nah…ich werde zu ihr sprechen…hundert Jahre lang…und wenn sie keine Angst mehr hat..vor meinen Stichen… Werde ich sie bitten…mich zu lieben..mich zu liebkosen…sich an mir zu stechen und kratzen..bis sie blutet..und ihr Blut auf die Erde fällt..und darin versickert..und auf MEINE Wurzeln fällt.
Keine Angst vor Schmerzen.
Wenn sie nur bereit ist..sich völlig zu geben..sich in mir zu verlieren…in mir aufzugehen..und mit mir zu wachsen…dann werden wir verbunden sein. Eins sein.
Und der Rosengarten wird erblühen..schöner als jemals zuvor…denn WIR werden ihn mit unserer Liebe nähren…und hegen und pflegen..fernab von jeder Äusserlichkeit
..in der Zeit..die kommen wird.

Dieser Beitrag wurde unter Kurzgeschichten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar