Ein Geschenk

27.10.2002
 
Ein kühler Hauch stiehlt sich durch mein gekipptes Schlafzimmerfenster, legt sich über mein Gesicht, wie eine Liebkosung. Frisch riecht es. Unberührt. Ich blinzle, räkle mich ein wenig, um festzustellen wie einsatzfreudig mein Körper schon ist. Entspannt. Ausgeschlafen. Ich fühl mich gut! So gut, dass ich gerade weiter schlafen könnte, aber die kleine Briese kitzelt mich in der Nase – neckt mich und lässt meinen Geist erwachen.
Dunkel ist es. Schon? Noch?
Das leise einsetzende Vogelzwitschern gibt mir Antwort. Es ist Morgen. Ein Herbstmorgen.
Der Radiowecker dudelt ungefragt los, nicht allzu laut, eher angenehm.
“Close your eyes, just feel and realize It is real and not a dream I'm in you and you're in me It is time, To break the chains of life If you follow you'll see What's beyond reality” singt Enigma und entlockt mir ein Lächeln.
Just feel and realize… Hört sich gut an. Langsam schäle ich mich aus der Bettdecke, vergnügt dabei kichernd. Vor Sonnenaufgang aufstehen ist echt keine Uhrzeit! Gut, dass mich niemand  dabei beobachtet, wie ich so unartige Dinge treibe.
Eine warme kuschelige Jogging Hose, Turnschuhe und ein mächtig dicker Pulli….na und ein Schal für um den Hals und um die Ohren. So richtig warm ist es sicherlich nicht mehr draußen.
Kurze Zeit später befinde ich mich auf dem Weg in die Isarauen. Gute Güte…wie lange war ich hier schon nicht mehr? Der Weg führt an einem kleinen Möchte-Mal-Ein-Echter-Bach werden entlang. Dort habe ich als Kind, mit meinen Sandalen, im Schlamm Kaulquappen gefangen, um kleine Haustierfrösche für mein Planschbecken zu züchten. Oh je! Ich schüttle meinen Kopf… Der Wanderweg führt unter einer Schnellstraße durch, aber es ist noch niemand  unterwegs. Nicht viele zumindest. Dann kommt eine Brücke, die über besagten Bach führt und ich bin im Nimmerland.
Einige Felder, über denen auf halber Höhe der Morgennebel steht und der Wald in den Auen. Den Waldweg könnte ich blind gehen, so oft bin ich ihn schon gelaufen. Im Hellen, im Zwielicht, im Dunklen. Aber noch nie schien er mir so echt wie gerade Jetzt. Es ist angenehm kühl, mein warmer Atem hinterlässt kleine Nebelschwaden und meine Nasenspitze ist so kalt und feucht, wie die eines Hundes. Aus einer Laune heraus falle ich in einen lockeren Laufschritt. Mein Herz schlägt so regelmäßig und kräftig, pumpt das Blut durch meinen Körper. Aus ganzer Lunge atmend…der Sauerstoff belebt mich und gibt mir nur noch mehr Antrieb…noch schneller Laufen. Jedesmal, wenn meine Füße den Boden berühren, knirscht der feuchte Kies unter meinen Schuhen. Ein monotones beruhigendes ‘krisch’ ‘krasch’’krisch’’krasch’ immerzu… Meine Wangen werden rot und heiß von der Anstrengung und ich genieße es ungemein.
In der Entfernung tut sich etwas auf…eine Spiegelung am Boden, die den halben Weg einnimmt. Eine große Regenpfütze wie es aussieht. Der Schalk in meinem Nacken piesackt mich. Deine Füße werden schon nicht zu nass. Du wirst schon nicht krank. Ist doch nur Wasser. Wie viel Siffe kriegst du wohl mit einem Mal reinspringen da raus?? Deine Jogging Hose ist SO hell auch wieder nicht… Die wird schon nicht dreckig!!!
….und was soll ich sagen.
Natürlich nehme ich extra Anlauf. Und lande mit derart viel 'Überzeugung' in dem schlammigen Mini Pfuhl, dass mir der Dreck im Gesicht hängt…und ich lache mit einer Inbrunst, die Tote lebend machen würde. Kinderlachen. Rein und ehrlich. So ein stiller Wald hat enorm viel Echo und ich lausche verzückt den Resten meines eigenen Lachens. Früher stellte ich mir vor, das Elfen in diesem Wald hausen. Wie das Glöckchen in Peter Pan. Wie sie leise die Menschen auslachen…und nur mit den Kinder reden, die noch nicht verlernt haben zu leben…zu ihrer Fantasie zu stehen.
Mein Weg führt mich weiter, bis ich diesen ollen Teich erreiche. Wer sich da jetzt einen romantischen verzauberten Ort vorstellt, der irrt! Es ist so ein Tümpel kurz vorm Umfallen…ach nein..umkippen. Aber eben nur kurz davor, und das schon seit bestimmt 10 Jahren. Ein Kämpfertümpel! Völlig eingesäumt von diversen Pflanzen, die mindestens genauso kaputt aussehen, wild ineinander verwachsen. Ich find’ es genial!
Um ihn zu erreichen muss man sich etwas durchs Gestrüpp kämpfen. Die Zweige und Äste ziepen an meinen Haaren, als hätten sie gewettet, wer von ihnen am Meisten aus meiner Kopfhaut rupfen kann. Ich bin da nicht böse drum – habe ja genug davon. Das Gras um den Teich rum steht hoch,  meine Hosenbeine haben sich schon mit dem Morgendlichen Tau vollgesogenes… But what Shalls…sprach die Scholle. Es Zwielichtet langsam und ich lauf beinah in ein unglaublich großes Spinnennetz, welches zwischen  einem verkorksten Strauch und ner Mini Birke steht. Der Tau glitzert darin. Kennt man ja von Bildern. Aber live. So wie ich da jetzt steh, isses sicherlich DAS genialste Bild überhaupt. Wie Silber…wie Diamanten… Wer bräuchte schon teuren Schmuck, wenn man sich mit derartigem bekleiden könnte. Ich würds gern anfassen…aber dann geht's kaputt. Darum lass ich's. Seh' mich nicht satt daran, bis es hinter mir platscht.
Was das?
Vorsichtig… Als wäre ich ein Geheimagent auf wilder Mission schleiche ich mich ans Wasser. Blicke mich um. Suchend. Auch über die Wasseroberfläche hält sich wacker der Nebel, ganz leicht…wie eine dünne Decke, damit der Teich nicht friert. Auch er schimmert schon leicht silberig. Morgen wird's. Die Sonne geht bald auf!
Ein Blatt schiebt sich in meine Nase…selbige kräuselt sich….Gott…ich hab NASENHAARE..ist ja schrecklich! Ich schneide eine Grimasse und schieb/drück/drängel das vorwitzige Blatt beiseite.
Psssst.
Da war's wieder. Aus meinen Augenwinkeln sehe ich etwas durchs den Tümpel ziehen. Ned groß, ganz still..und dann….?…dann quakt es leise durch den Nebel.
WAH!! ENTEN!!
Ich kichere, halte mir die Hand vor den Mund, doch die Tierchen haben's gehört..schlagen aufgeregt mit den Flügeln, bürzeln geradezu bedrohlich und protestieren lautstark.
Ich könnt mich wegwerfen vor Lachen. So ein echter Erpel kann bemerkenswert vorwurfsvoll drein schaun. Ich schwörs!
Aber wir arrangieren uns. Ich jage sie nicht und sie begnügen sich damit, mir hin und wieder einen entnervten Blick zu zuwerfen… Als mir das am Wasser knien zu öde wird, lass ich mich auf einem Bauchstumpf nieder, den hat's vor Jahren mal bei einem Gewitter umgenietet und man sitzt dementsprechend unbequem darauf. WIRKLICH unbequem. Es sticht und piekt mich in meinen Hintern, aber…nun ja…es gehört wohl dazu, wenn man Mutterseelen allein, um diese Uhrzeit durch den Wald dümpelt.
Das Wetter ist gemischt, halb bewölkt, halb frei… Ganz links von mir ist es noch richtig duster und rechts kann ich an den Wolken schon den ersten goldenen rötlichen Schimmer entdecken…na ja..zugegeben, der Schimmer ist mehr rosa. Aber wer mag schon rosa?
Ich halte mit allem inne..ausser atmen vielleicht..höre auf zu denken und blick bloß verzückt in den Himmel…die Wolken die flux vorbeihuschen…einige dick und dunkel..andere..die tiefer liegen…leicht und weiß…ein wundervoller Kontrast.
Ich sitz einfach nur da und lasse die Umwelt auf mich wirken. Bin simply here. Ich atme…frische – lebendige Luft. Leben. Und ich fühle… Den Baumstumpf unter mir…die feuchten Füße…und die Stellen auf meinem Kopf…an denen sich die frechen Büsche an meinen Haaren bedient haben. Ich höre.. Die immerzu leise quasselnden Enten…die dazwischen zwitschernden Vögel…mich selbst atmen. Und sehe dieses Naturschauspiel, dass man so gerne übersieht, weil die Sonne jeden Morgen erneut aufgeht und der Mensch dazu neigt, Dinge die ihm immer zur Verfügung stehen zu vernachlässigen.
Man kann der Sonne beim aufgehen zugucken.
Was für ein Wahnsinn! Als hätte ich's noch nie zuvor gesehen!
Die Welt schweigt für eine Sekunde und es gibt nur noch mich, die Eins ist mit dem Alles um sich herum und glücklich. Glücklich bin ich…
Mein Herz will fast springen…zerstäuben und sich mit allem hier vermischen…verbinden. Ergriffenheit. Tränen. Tränen, weil etwas, dass du siehst..so wundervoll ist…so unbegreiflich wunderschön, dass du in diesem Moment sterben könntest und wüsstest…du hast alles gesehen und gefühlt, was du sehen und fühlen musstest. Es gibt kaum einen schöneren Grund zu weinen. Die Tränen ziehen warme Spuren auf meine kühlen Wangen. Das darin enthaltet Salz kristallisiert aus…und die Haut darunter spannt leicht. Details. So viel Details und ich kann sie wahrnehmen. Wie Einzigartig.
Die Sonnenstrahlen bedecken mein Gesicht, wärmen es liebevoll, wie die zärtliche Hand einer Mutter. Ich bleibe lange so sitzen. Beobachte, wie der Nebel der Sonne weicht…wie die Tautropfen scheinbar im Nichts verschwinden. Und dafür die Farben kräftiger werden. Lebendiger. Und mehr Gerüche. Viel mehr Gerüche! Der Tümpel…DER gibt sich besonders viel mühe beim duften….ehrlich! Die Besitzerin des gigantischen Netzes hat sich auch aufgerafft und klettert behände an ihrem Werk entlang. Ausbesserungsarbeiten wie ich vermute. Vielleicht nachgucken, welche Beute die Nacht so mit sich gebracht hat.
Mit der Zeit wird es richtig warm und ich wage es, mich in dem Gras langzulegen. Dösen in der Sonne. Vom Boden her zieht es schon ein wenig kühl…aber egal. Man lebt nur einmal.
Apropos.
Mein Magen knurrt.
Während ich wohlgemut den Weg nach Hause beschreite, bin ich gedanklich beim Chinesen, beim Japaner, beim Griechen… Beim Jugo um die Ecke, beim Türken und beim Italiener… Ich kann mich so gar nicht entscheiden was ich will. Soviel viele leckere Sachen. Ich mache daheim einen Abstecher, nehme meinen Geldbeutel mit und bleibe letztendlich im Supermark hängen. Hab da so eine Idee.
Ein Stündchen später, es könnte schon Mittag sein, steht es da auf dem Tisch.
Dieses Steak…vom Rind…englisch natürlich…mit der richtigen Portion Kräuterbutter…der obligatorischen Kartoffel mit Sauerrahm und dem Anna Spezial Matsch-Salat. Matsch-Salat ist alles was man an Gemüse leiden mag..ganz klein geschnippelt…nebst Käse…nebst Schinken…ein paar Nüsse und so Sachen… Fein angemacht. Sieht fies aus – schmeckt aber lecker. Der Anblick allein lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Es lebe Pavlos Dog.
Ich bin ein Fleischnarr. Kann mir gar nicht vorstellen, dass mir das nie wieder schmecken soll. Mit der Gabel ist das weiche Filetfleisch mit dem knusprigen Äußeren gestochen… Bratensaft, gemischt mit Blut……das Messer gleitet durch das Fleisch als wäre es Butter… Und ich kann mir genau vorstellen, wie ich es mit der Zunge am Gaumen zerdrücken werde und es sich hemmungslos hingeben wird.
Wer sagte da…egal ob Sex, Essen oder Tanzen…es wäre das gleiche? Ich glaub fast.
Nach einer weiteren Stunden, habe ich mein kleines Menü vernichtet…mit Vorsatz und Genuss!
Nachmittags erlaube ich mir Klamotten einkaufen zu gehen… Mich durch die Menschenmassen zu drängen. An und für sich mag ich es nicht leiden, aber ich habe heute so ne unkomplizierte Laune, das muss ich ausnutzen.
Nach dem Einkaufen…ein kleines Cafe… Ein Kaba..mit Milch…nicht zu süße aber viel Sahne! Ich bin so gut gelaunt, dass ich sogar dem Kellner vorwitzig zu zwinker…und der lächelt zurück. Meine Güte…was für ein wundervoll normaler Tag. Beim besten Willen kann ich mich nicht entsinnen, wann ich so was früher gemacht habe. Einfach einen Tag so leben. Nicht hinter sich bringen, mit Dingen die nicht wirklich wichtig sind, sondern…wirklich zu tun was man will… Sich beschwingt fühlen… Zufriedenheit finden in dem was man tut…ganz egal wie banal.
Mann…. Kaba schmeckt schon verdammt lecker!
Als ich wieder nach Hause komme, dämmert es schon wieder. Auf meinen Lippen liegt ein Lächeln. Ich summe vergnügt, habe mir vorgenommen noch ein richtig schönes heißes Bad zu nehmen, mit viel Geruch drin… Und Milch. Ich will in Milch baden!
Das Wasser dampft freundlich vor sich hin…das ganze Bad riecht nach Melisse…ich find Melisse toll! Liebevoll verteilt stehen Teelichter auf dem Wannenrand, dem Fenstersims und dem Waschbecken, ansonsten ist es dunkel und mein Laptop spielt Musik die ich leiden mag.
Dieser Moment, wenn der Körper in das etwas zu heiße Wasser gleitet und man den Eindruck hat, es wäre kalt, statt heiss…und dann..dringt die Hitze durch und du lehnst dich zurück, schließt die Augen und hältst ganz still. Eingelullt in das warme Nass, erfüllt von dem Geruch. SO muss Baden sein.
Meine Gedanken schweifen dahin. Alles erwähnend, sich an nichts haltend.
Bjelovar, mein Geburtsort.
Maria, meine Mutter…deren Grab ich nicht einmal sah.
Mato, mein Onkel.
Wie ich durch die Schule wandere, abseits von allem was mich wirklich berührt.
Wie ich mich entwickle, älter werde und erkenne, dass mein Leben nicht echt ist.
Nicht echt genug.
Meine Lehre in der Werkstatt. Susanne.
Mein Onkel stirbt und ich bin diejenige, die ihn zurechtmacht. Wäscht.
Anna die Leichenwäscherin.
Der Tanz. Tanzen. Ich sehe mich, wie ich tanze. Ich tanze über die Tanzfläche, durch den Raum hinweg zu dieser U-Bahn Station.
Katinkas Spiegelung. Malekins Augen. Thomassos Zauberbeschwörung. Die Träume von Hvar. Tausend Briefe. Wolfensteins Lächeln. Und Sams Art mich anzusehen. Der Schlayer, wie er das erste Mal mein Handgelenk packt und ich dachte der Schlag trifft mich. Ich lächle, so kurz und schon ein halbes Leben. Josephas Mutterblick. Georges Stimme wenn er tickt. Dieses Zeichen in Christophers Gesicht und Lyra die besorgt seine Hand hält. Der Malfeis im Schatten. Der Abt wie er fällt, Malekin der ihn fallen lies und Katinka wie sie mich anblickt.
Ihre Augen, sind meine Augen sind…
Ich lächele und genieße das warme Kribbeln in meinem Körper wenn ich an sie denken… Lasse mich langsam…so tief in die Wanne gleiten, dass nur noch die Nase rausguckt zum atmen.

Als ich ins Bett gehe zeigt die Uhr 00:10.
Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Ich wickle mich in die Decke, bin immer noch ganz kuschelig und weich vom baden. Bald werde ich schlafen… Tief und fest und traumlos.

Alles beginnt
Und Alles endet
Zur richtigen Zeit
Am richtigen Ort

 

Dieser Beitrag wurde unter Die Tagebücher der Anna T. veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar