Eindrücke

04.11.2002
 
Ich lese dieses Buch.
Es heisst Musik.
Ich lese es mit meinen Ohren.
Meine Augen geschlossen. Mein Körper hält still. Ganz still. Wie tot. Ein Buch zu jeder Zeit ist mehr als ich lesen kann.
Die Unvollendet…auf Wiederholung…ganz leise. Und bei jeder Wiederholung bemerke ich jene Stellen, die ich beim ersten Mal überlesen habe. Und es hört nicht auf. Jedesmal wieder. Jedesmal. Und ich lese schon seit Stunden.
Erst das Buch,
dann nur noch eine Seite aus dem Buch,
dann nur noch einen Satz, von der Seite, aus dem Buch,
dann nur noch ein Wort, aus dem Satz, von der Seite, aus dem Buch,
dann nur noch einen Buchstaben, aus dem Wort, aus dem Satz, von der Seite, aus dem Buch.
Und dann?
Den nächsten Buchstaben, aus demselben Wort, aus demselben Satz, von der derselben Seite, aus demselben Buch.
Die wirkliche unendliche Geschichte.
Die Musik zu lesen hält mich davon ab, die Gier zu fühlen. Falsch. Es hält mich davon ab, das Buch Gier zu lesen.
Es ist das bewegendste Buch. Dass mich am tiefsten in sich zieht. Geschrieben in jeder Sprache, mit den klarsten aller Worte. Musik les ich mit den Ohren. Gier lese ich mit mir, und die Gier liest mich. Erkennt mich, versteht mich, bewegt mich, erfüllt mich..
Ich konzentriere mich auf Musik.
Feingliedrige Buchstaben. Hingabe. Ja Hingabe.
Ich bin tot. Hab mich hingegeben.
Hingabe ist schön. Hingabe liest sich gut. Berührt mich. Musik ist ein schönes Buch.
Irgendwann bemerke ich, dass neben mir ein Brief liegt.
Hat Katinka ihn dorthin gelegt?
Lag er schon immer da?
Hab ich ihn mitgebracht?
Wie lange lese ich schon?
Beinah mühsam, löse ich meinen Blick aus dem Nichts, klappe die Musik zu und betrachte den Brief.
Anna Malekin.
Anna.
An
A.
Ma.
Mal.
Malekin.
Ein unhörbares vergnügtes Glucksen ergreift mich. Ein Brief. Schick!
Mit viel Liebe und Hingabe (Hingabe ist gut) öffne ich diesen Brief. Entfalte ihn  enevierend langsam. Geruch. Das Buch Geruch lesen? Nein. Nicht jetzt. Ich betrachte die Buchstaben auf dem Blatt Papier. Die Absätze. Das Schriftbild. Wann die Tinte dicker ist, wann dünner. Wann die Linien zittern. Wann sie fließen. Wie oft angesetzt wurde, ohne das Worte entstanden. Wie oft ein Wort unterbrochen wurde, weil der Schreiber unsicher war…und es dann doch zu Ende geführt wurde. Wohin sich die Buchstaben neigen. Wie die Zeilen verlaufen.
Ich lese das Buch Schrift.
Es wurde freien Willens geschrieben. Ich schmunzle. Es gibt sich Mühe hübsch zu sein. Wie nett. Am Anfang zögerlich, der Ansatz fehlte. Oder nein…nein…der Ansatz war da, aber der Anfang fehlte. Wo anfangen, wenn es soviel zu sagen gibt? Es hat sich von allein geschrieben, manchmal wurde es gebändigt, weil es sich selbst schreiben wollte, ohne Kontrolle. Aber der Schreiber, schrieb nicht des Schreibens Willens. Er wollte Sich mitteilen. Er kontrolliert. Ein gefühlvolles Wesen, dass sich hinter seiner Kontrolle versteckt…aber… Die Worte werden geschmeidiger. Es lässt mich hinter die Maske sehen. Es will sich offenbaren. Mit mir reden.
Ich lächle.
Der Schreiber dieses Buches mag mich. Fühlt für mich. Bin ihm wichtig. Ich sehe es an den sanften Schwingung der Buchstaben. Und an manchem Zittern. Nicht das Zittern der Angst vor…sonder der Angst um. Ein schönes Buch.
Ich will es schon sanft lächelnd zur Seite legen, als mir einfällt, dass ich den Brief ja auch lesen könnte.
Klar oder?
Briefe guckt man nicht nur an, man liest sie auch. Weiß doch jedes Kind.
Darum lese ich diesen Brief.
Wie viele Worte!
So viele Worte!
Die alle nur das eine sagen! Sie winden sich um sich selbst und jeder Satz birgt die gleiche Botschaft. Eine Botschaft an mich. Für mich . Anna Toth die jetzt Malekin ist.
“Sei mir nah!” Sagen sie.
“Vergiss mich nicht!” Sagen sie.
“Ich will dich nicht verlieren!” Sagen sie.
Ich lese das Buch Gefühl.
Schließe meine Augen und erinnere mich. An mein Herz, dass noch vor einer Sekunde erst gestockt hätte, um dann um so leidenschaftlicher zu schlagen. Kann ein Vampir fühlen?
Ob Vampire können, weiß ich nicht. Aber in meinem Buch steht, dass ich kann. Ich fühle meinen Puls nicht ansteigen, aber ich fühle Wärme. Nicht körperlich. In mir. Wärme in mir. Wie Musik. Mich erfüllend. Ein neues Buch das ich lesen kann, um die Gier zu verdrängen.
Thomasso stellt mir eine Frage.
Ich antworte ihm.
Drehe seinen eigenen Brief um, und ritzte mit der Spitze meines Silberringes die Worte feinsäuberlich darunter. Ich glaub ich sitz da sicherlich drei Stunden dran. Da ich das Buch Schrift lesen kann, muss ich selbst so genau schreiben. Ich will nicht, dass ihm schwindelig wird, wenn zu viel Informationen drin zu lesen sind.
Unsichtbare Buchstaben, das Papier verletztend.

‘Ich bin tot.
Doch das, was mich bis ins Innereste berührt bleibt am Leben.’

Als mein Werk vollendet ist, lege ich den Brief einfach wieder neben mich. Dort wo ich seinen fand. Ich schließe meine Augen, klappe die Musik wieder auf und lese weiter.
 

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