Verlangen

03.05.2003
 
Mondkinder nennen sie uns. Die Verrückten. Wahnsinnig wären wir – sagen sie.
Doch sie wissen Nichts. Nichts. Sie plappern nach, was ihnen seinerzeit in den Mund gelegt wurde, ohne auch nur zu ahnen – ohne nur den kleinsten Schimmer davon zu haben, wie wahnsinnig es ist. Wie wahnsinnig intenvsiv, wie leben und sterben und alles dazwischen.
Aber wie könnten sie verstehen, was sie nicht erlebten, nicht mal sahen..niemals sehen? –  also lächle ich das liebevolle zärtliche Lächeln einer Mutter, wenn ich in ihre Augen blicke, wenn sie mir Fragen stellen.
“Geht es dir gut Anna?” Und ich sehe in ihren Augen, lese ihre Gedanken.
….Sie sieht krank aus….
…das Blut auf ihren Wangen…
…wie sie mich ansieht…
….armes Mädchen…
Und ich habe Mitleid mit ihnen, weil sie die Welt nicht mit meinen Augen sehen können.
Und ich schweige und lächle weiter, weil sie keine meiner Antworten hören wollten.

Katinka hat gesagt, dass wir heute ein neues altes Spiel spielen. Guhlen ins Gewissen reden.
Der Abend heute ist eine Insel. Zumindest für mich. Ja natürlich kreucht der Sabbath herum..und ja natürlich kreucht Vanderbilt herum…Georges kreucht und…und was noch alles Kreucht, darüber will ich mal lieber erst gar nicht nachdenken. Aber ich gehe an der Hand meiner Mutter und bin mit meiner Welt seltsam zufrieden, als wär ich nicht genötigt in ihr zu leben.
Die meisten anderen Anwesenden sind auf keiner Insel. Gereizt bis beherrscht unwillig. Wobei..nein…Miss Thorndyke wirkt tatsächlich immer…ehrlich bis raffiniert unbedarft. Und wenn hinter ihr der Teufel erscheint, würde sie nach einem kurzen Moment, in dem sie die Haltung gewahrt hat vermutlich etwas sagen wie:
“ Gute Güte sie haben mir aber einen Schrecken eingejagt……darf ich ihnen einen Drink einschenken Herr….wollen sie Satan genannt werden?” Und Satan wäre verwirrt. Ich bin sicher und muss diese Art und Weise tatsächlich bewundern. Lernenswert.
Wir trinken unser Blut aus der Dose und ich male mir heimlich lustige Situationen aus in der  Miss Thorndyke echt schlimme Bösewichte zur Weissglut treibt.
Apropos echt schlimme Bösewichte.
Herr Krell, der Prinz, zeigt uns ein Video. Von dem hab ich schon gehört. Es zeigt wie Vanderbilt, böse Dinge sagt und böse Dinge mit Herrn Blake tut. Ich bekomme Gänsehaut. Vanderbilt kann sprechen, so dass er noch viel mehr als Worte sagt – sehr unheimlich. Und wenn er mir nicht so unsympathisch wäre, müsste ich ihm für dieses Können huldigen. Er spricht so leidenschaftlich kalt. Mir ist ein wenig schlecht. Egal.
Danach brechen Diskussionen los. Was man tun kann. Was man tun wird. Was man nicht tun wird. Was getan werden sollte. Welche Chancen wir ja eigentlich nicht haben.Und etliches mehr in dieser Richtung. Auch ich diskutiere mit. Ich möchte schon helfen. Ich möchte dass alle eine Insel haben auf der sie in Sicherheit sein können, wenn sie wollen. 
Aber irgendwie bin ich kein Fuchs. Meiner Meinung nach wäre es wohl am aller Klügsten, wenn man Vanderbildt davon überzeugen würde sich dem ehrenvollen Suizid hinzugeben…aber ich habe den vagen Verdacht der Ex-Prinz ist für meine Ideen nicht offen.
Egal.
Während der Videovorstellung hat sich Uwe aus Heringshausen Krallen wachsen lassen. Und haste nicht gesehen, war der Raum voller Hühner. Soweit wäre das noch lustig gewesen. Ich hatte mich ja auch erschreckt, aber dann haben die Gelehrten den mitgenommen und die Schreie aus dem anderen Raum waren wirklich nicht lustig. So recht will ichs nicht verstehen können. Zum einen achtet Krell sehr bedacht darauf, dass keinem Menschen ein Leid geschieht…wofür ich ihn bewundere. Und zum Anderen lässt er es zu, das seinesgleichen misshandelt werden. … Und unsereins wird nachgesagt, wir wären schizophren.
…and they got the fucking nerv to call me colored…
Egal.
Vanderbilt scheint eine gewisse Freude an Videobotschaften gefunden zu haben. Er lässt uns noch eine zukommen.
Schwupp sitzen wir alle vor dem Videogerät, nebst unseren Getränken, gerade dass noch die Tüte Popcorn fehlt. Ich bin neugierig. Vielleicht gibt es Hinweise zu finden. Irgendetwas was ich tun könnte.
Cinema News!
Es tut Fanfaren und ich höre wie einige Lachen. Wahrscheinlich denken sie, sie würden höhnisch lachen…aber in meinen Ohren klingt es nervös.
Vanderbilt sitzt am Tisch mit so einer Geschäftstussi die Geschäftsmäßig lächelt.
Er erzählt uns Bla bla und weißt auf den Mann neben sich, der hat ne Tüte überm Kopf. Irgendwie wirkt dieser Anblick ganz komisch auf mich, mir wird wieder schlecht und irgendwie zieht es mir den Boden etwas unter den Füßen weg. Ist nicht so schlimm, weil ich sitzt ja schon.
Vanderbilt spricht von einem speziellen Gift, extra für Vampire entwickelt und ich lausche aufmerksam. Was zum Teufel hat er vor?
“….sie werden es vielleicht schon bemerkt haben….”
WAH. Ich glaub ich krieg meine Tage. Verdammt. Ich krümme mich zusammen und halte meinen Bauch fest, ich glaube mein Magen will aus mir rauskriechen und davon laufen.
Kann man als Vampir noch Regelschmerzen haben? Ich bin verschoben und vergesse ganz dem Video zu zu sehen. Was geschieht hier?
“…. Aber keine Sorgen…das wird noch schlimmer…”
Nicht normal.
Endlich verstehe ich, dass diese stetig ansteigenden Schmerzen nicht natürlich sind.
Gift.
“…..bei manchen mag es nicht sofort einsetzten…”
Ein Spezielles Gift …
Ich begreife was geschehen ist und kann es nicht mehr aussprechen. Ich bin schweigend, weil ich keine Worte habe für das was ich fühle. Von Innen heraus zerkratzt zu werden…aufgeschabt. Blut das aus Ohren und Augen und Lippen dringt, meine Sicht vernebelt…oder ist das die aufkeimende Gier die alles rot werden lässt? Katinka ruft immerzu meinen Namen.
Anna. Anna. Anna. A n N a.. JA!! Ich winde mich lautlos. Alles um mich herum verschwindet in unwichtigkeit. Nur dieses kratzen/brennen/gieren/zehren. Irgendwann liegt Katinkas Handgelenk auf meinen Lippen und ich trinke artig, aber der Hunger wird nur größer nicht weniger und ich höre Malekins Stimme in meinem Kopf, wie er sagt.
“ Kannst du aufhören Anna? Hast du die Kontrolle?”…und ich spucke aus was ich mir wünsche und presse meine Lippen auf einander, was alles noch schlimmer macht. So nah ist was ich will und ich kanns nicht nehmen. Ich wills nicht nehmen… Dann wird alles übermächtig und ich falle in mich selbst zurück und beobachte wie ich zu schreien beginne. Aus Leibeskräften. Ich schrei hinaus, dass dieses Leid mich tötet. Dass ich meine Mutter trinken will, dass ich alle trinken will, dass dieses Rot mich verrückt macht, dass es böse spitze Freddy-the-Nightmare-Krallen sind, die sich von Innen nach Aussen arbeite, dass ich alle Hasse, dass ich sie alle töten will, dass ich zerreisse und dass ich den nächstbesten zerreissen werde..
In einer absurden Vision sehe ich wie sich meine Bauchdecke öffnet und ein Monster daraus hevorkriecht und ich schreie vor Angst, weil es drin bleiben muss.
Dann wird es anders.
Weiß nicht so recht, ob ich wache oder träume. Alles recht verschoben. Der Schmerz wird immer noch schlimmer, aber ich kann ihm keinen äusserlichen Ausdruck mehr verleihen. DAS ist GRAUSAM!
In der ersten Sekunde lese ich Chaos.
Das Buch Chaos. Das gibt es nicht. Es ist ein Buch aus allen Büchern. Und ein jedes schreit nach Blut und mehr. Irgendwo in einer entfernten Anna-Ecke höre ich Katinka, wie sie zu ihr spricht, ganz behutsam. Eine Mutter am Kindsbett. Kindstot.
Ich sterbe. Aber nein. Ich sterbe nicht. Ich töte. Ich werde töten. Zweifelsohne. Lasst mich raus aus diesem Gefängnis und ich werde – egal wen – egal was trinken, bis nichts mehr von ihm über ist..und dann den nächsten und den nächsten und den nächsten und den nächsten…alles dreht und wendet sich, ohne Anfang ohne Ende und irgendwie warte ich …tick…tack..auf die Feuer von Innen die mir Leben geben.

…. In der zweiten Sekunde wird es tausendfach schlimmer…
Dann bin ich wieder in mir und bereit alles zu zerfleischen. Ich kann mich bewegen, aber nicht richtig. Man hält mich fest, aber sie werden in jedem Augenblick schwächer und ich mit jedem Augenblick stärker, dann werde ich sie erlegen und fressen. Ohne Grund. Nur weil sie da sind und ich nichts anderes will. Und ich habe noch garnicht angefangen sie anzugreifen. Noch ein paar Sekunden und ich werde sie mit meinem blosen Willen von mir schleudern.
Geht weg!
GEHT  WEG!!
Jemand spricht die Worte in meinem Kopf aus und ich bin frei.
Frei zu töten.
Durch den Schleier meiner Wahrnehmung fühle ich Malekin und die Worte, die ich schon so oft hörte bekommen auf einmal Sinn. Diese Erkenntnis ist derart erschlagend, dass ich für den Bruchteil eine Sekunde innehalte um das Hoheitsgefühl zu genießen.
Nur Malekin frisst seine Kinder.
Und niemand anderes hätte es verdient von mir gefressen zu werden.
JA! JA! JA!
So nehme ich mein Geschenk zum zweiten Mal.
Der Moment des Innehaltens ist vorbei und ich schlage meine Fänge in sein Fleisch und ich trinke, fernab jeglicher Kontrolle. Ich schmecke Malekin. Und ich schmecke wie Malekin weniger wird und ich noch lange lange nicht satt bin. Aber als ich ihn schon lange lange ausgetrunken habe, ist da immernoch Malekin, und er gibt mir immernoch. Ich sehe nicht was er tut, aber ich fühle es. Er trinkt Malekin und gibt ihr die Gier, während ich Malekin trinke und ihm die Gier gebe.Mein Leid, wird sein Leid, wird ihr Leid. DAS ist Liebe!
Und just in dem Moment, in dem ich fähig bin dies zu denken, muss ich ablassen. Obwohl ich noch tausend Jahren lang weiter trinken könnte.
Beide zittern meinen Schmerz und mein Verlangen…das…..erträglich geworden ist. Ich sehe in ihre Augen und weiß was sie fühlt, weil ich es fühle und dieser Gedanke macht mich schwindelig und ich will sie küssen und weiter von ihr kosten, aber die Kraft, die mir noch vor einer Minute..(hundert Jahre)…gegeben war, hat mich verlassen. Ich bin schwach und hilflos. Fast wollen meine Beine nicht tun was ich ihnen sage.
Wir sitzten auf einer Bank, irgendwie ineinander gekrallt. Malekin war da und hat uns gehalten und mit uns gebeebt…und auch wenn er gerade irgendwo ist…ist er ganz nah…durch meine Adern fließend…beide und ich muss absurd kichern, weil ich das so abartig schön finde.
Wir sehen uns um und denken die gleichen Gedanken. Ohne Frage. Komm näher Frau Viscardi, wir haben ein Geschenk für dich. Der Torri zögling von di Arrezo sitzt neben uns…nur ein kleines Stück..hinüber gerückt…keine Chance hätte er. Nicht gegen unseren Hunger.
Größenwahnsinnige parasiten und ein Raum voller vorübergehender Wirte.
Lass uns spielen gehen Mutter.
Lass uns tanzen!
Gib dem Affen Zucker und werf Holz ins Feuer.
“ Was hat dir geholfen?” Fragt Irgendwer.
“ Mutterliebe!” Antworte ich irgendjemanden.
Und dann blicken wir auf und haben irgendwen zum fressen gern…der geht.
Wir kichern. Mutter und Kind. So nah. Wir sind uns so nah.
Mein Körper erinnert sich immernoch ans gerade sterben und ich bin überflutet mit wirren lustigen Gedanken die alle ganz unartig sind. Nein. Satt bin ich noch lange nicht.
Es ist ein Funke Vernunft, der mich davon abhält … So ne Tradition nicht zu brechen.
Und diese absurde Lust an diesem Gefühl, dieser Rausch in dem wir schwelgen.
Gefährliches Spielchen.
Da stehen wir drei wieder beisamm’.
Jagen gehen.
Lasst uns jagen gehen, spricht er und die Vorstellung mit diesen beiden, die wir sind zu laufen zu hetzen zu erlegen uns zu suhlen und zu sättigen… Ist erregend, macht mich krank und wird mich heilen…. Wir eilen nach draussen.
Wir tanzen, rennen…bleiben stehen und warten, auf dass wir komplett sind…und spielen.
Kann sie riechen…ihren Hunger…von mir geschenkt…ihre helle Haut…wir flüstern uns Dinge zu…kleine unanständige Geschichten, wie wir einander trinken, graumsame Versprechen in jeder Silbe…ich lese die Vibrationen ihrer Stimme, wenn sie lacht…meine Sinne umgarnend…mich ein lullend und ich schenke ihr jedes Streichen, jedes Kratzen zurück…es IST Wahnsinn…aber anders als sie alle denken…wundervoll…ich will mich nicht halten, aber ein jeder von uns dreien, die wir sind hat nur gerade genug für sich…gerade genug um nicht zu fallen… Nicht den Verstand zu verlieren….So nah…nur millimeter von meinen Lippen…dann könnt ich nippen…ich bebe..ich lebe…wir leben…vibrieren…Worte die nicht mehr gesprochen werden…Verführung in einer anderen Dimension…wollen, nicht dürfen..das Denken, richtig lenken, aber sich verirrend…wir verwirren uns, das Denken verliert sich und ich will und werde nachgeben, so liebend und zärtlich wie nur ein Kind küssen kann, versinke ich in ihr, und sie in ihm und er in mir und wir sind nicht mehr drei sondern nur noch Malekin…

….Hand in Hand in Hand…Malekin zieht durchs Land…ein Verstand, eine Seele, in einem Blut, vereint…ziellos die Straßen entlang…durch die Nacht…
…ein Innenhof….ein Pavillion….ein Brunnen…Malekin sitzt und wartet sich  in seiner Einheit liebkosend…dann öffent sich eine Tür..dann öffnet sich ein Tor…und sie quellen hervor…schlafwandelnd…einer nach dem anderen…wir sind die Götzen und sie bringen uns den Blutzoll den sie uns schulden…eine Million…ein jeder gibt von sich in diesen Brunnen und wir warten geduldig, bis sie beendet haben und unsere Zeit beginnt…in diesem Blut will ich ertrinken und darin baden und es dann saufen…wie die Tiere…gierig ..haltlos…vornübergebeugt suhlen wir uns in dieser roten Pracht und stillen unsere Gier…

Mondkinder nennen sie uns. Die Verrückten. Wahnsinnig wären wir – sagen sie.
Doch sie wissen Nichts. Nichts.

 

Dieser Beitrag wurde unter Die Tagebücher der Anna T. veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar