Der letzte Brief

Anna nahm eine Schmerztablette und starrte seufzend auf das leere weiße Blatt Papier vor ihr. An und für sich war sie sich immer noch nicht sicher, ob sie diesen Brief wirklich schreiben wollte. Andereseits wußte sie genau, dass es nie einfach sein würde und es auch nicht besser  werden würde wenn sie noch länger wartete. Sie hob ihren Kopf und warf einen Blick nach draussen. Es war noch dunkel, aber die ersten Vögel hatten schon angefangen ihre Lieder zum besten zu eben. Sie schluckte. Was konnte schon passieren? Was war so schlimm daran, dass er es nie erfuhr? Was war so schlimm daran, daß er es erfuhr? Sie hatte nichts mehr zu verlieren – nicht mehr. Ihr Blick fiel wieder auf das Papier, es war eine Seite aus ihrem Drucker. Ihrer Entscheidung, ihm jetzt Mittzuteilen was Sache war, war sehr Spontan gefallen und nach längerem Suchen hatte sie festgestellt, dass sie im ganzen Haus auch nicht ein Fetzten Briefpapier hatte. Mit ihrem Pc wollte sie auch nicht schreiben, viel zu unpersönlich, Na ja. Sie seufzte erneut. Langsam nahm sie den alten Pelikan Füller in die Hand, er machte regelmäßig seine Klecke auf alles, was man damit Schrieb, aber Bleistift wollte sie auch nicht nehmen, weil….
Während sie so nachdachte wie sie den Brief beginnen sollte schoßen ihr alle möglichen Gedanken durch den Kopf, was sie heute noch alles erledigen wollte, dass ihr Zimmer eigentlich mal wieder aufgeräumt gehörte, welche Musik sie einlegen sollte. Es war nicht einfach,  Ihr Kopf dröhnte ein wenig. Verdammt. Es wurde langsam Zeit.
Anna legte den Füller noch einmal zur Seite um noch eine Schmerztablette zu nehmen. Dann rückte sie ihren Stuhl zurecht, machte es sich bequem und begann zu schreiben:

Hallo
   
Ich sitz‘ hier nun schon ‚ne ganze Weile und weiß garnicht so recht, wie ich anfangen soll.  Ich werde einfach versuchen zu schreiben, was mir so durch den Kopf geht, also nicht wundern, wenn irgendwas nicht so zusammenhänged klingen will. Trag mich schon länger mit dem Gedanken, dir zur sagen, schreiben oder wie auch immer, dir mittzuteilen welche Art von Gefühlen ich für dich hege.
Wir kenen uns ja nun doch schon ein weilchen und es war schon immer so, daß du mir gefallen hast. Aber….na ja die Art und Weise, in der ich an dich denke hat nichts mit gefallen oder befreundet zu tun. Ich weiß nicht, wie in aller Welt das passieren konnte, doch es sieht wohl so aus, dass ich mich in dich verliebt habe. Oh ich habe viel darüber nachgedacht. Ob es nicht einfach so ist, dass ich dich haben will, weil ich dich nicht kriegen kann (denk ich halt), dann muß ich jedoch sagen, dass ich sehr hartnäckig bin, denn du lebst schon seit bald zwei Jahren in meinem Kopf – wenn das nur einbildung ist, dann weiß ich auch nicht. Weißt du, jeden Tag an dich zu denken wär ja schon okay, ich hatte mir ein gutes System entwickelt um das einfach zu akzeptieren, es einfach nicht so ernst zu nehmen, aber nun bin ich an einem Punkt angelangt, an dem das nicht mehr so funktioniert, wie ich mir das vorstelle. Teufel auch…
Ich habe in meinem Kopf tausend Geschichten geschrieben, beim einschlafen, beim Autofahren, wann immer ich Zeit hatte und in allen warst immer nur du der Mittelpunkt. Ich hab mir wirklich viel ausgedacht, wie ich dich ‚bekommen‘ könnte, wie ich verführen würde oder berühren oder in deinem Arm liegend und Frieden verspüren. Aber ich wagte es nie sie zu verwirklichen, denn wenn du nicht so fühlst wie ich könntest du es womöglich besser finden, wenn wir uns eine Weile nicht sehen. Oder schlimmer noch, es ginge dir wie mir. Du würdest meine Gefühle erwiedern,…

Anna warf einen kurzen Blick auf das Foto, dass auf ihrem Schreibtisch stand. Ein junger, hübscher Mann war darauf abgebildet, der sie im Arm hielt und lächelt. Mühsam versuchte sie den Frosch in ihrem Hals runter zu schlucken. Es war alles nicht fair. Es war alles nicht so wie es sein sollte oder sein könnte. Wie konnte sie solche Gedanken in sich tragen? Es war schon irgendwie aussichtslos. Sie hatte sich sehr bemüht alles unter Kontrolle zu bringen und zeitweise war es ihr auch gelungen, sie hatte sich was wie oft für ihr beziehung entschieden, denn er war ein guter Mann. Aber er war auch anders geworden, das warum sie dieses Leben mit ihm immer vorgezogen hatte, die unkompliziertheit war verschwunden. Sie investierte jeden Tag viel Anstrengung darin um ihm das Gefühl von Liebe zu vermitteln. Sie trug genug zuneigung in sich um das zu tun, aber aus diesen und jenen Gründen behielt er alles für sich und gab ihr nichts mehr zurück. Und das ließ sie langsam verdorren. Ja und dazu kam dann noch ‚er‘. Denn sie schon länger kannte als den ihren, und schon lange schätze…Das Hämmern in ihrem Kopf wurde stärker. Himmel Herrgott.. Sie drückte zwei Tablette aus der Verpackung und spülte sie mit einem schluck O-saft hinunter. Dann las sie sich durch, was sie bis jetzt geschrieben hatte und ….

…dann wär ich noch viel mehr aufgeschmissen, denn dann wäre das, wonach sich mein herz zu sehnen scheint zum greifen nah – und ich würde wohl schwach werden. Für die Vorstellung in deinem Arm zu liegen, könnt ich sterben. Mir werden die Knie schwach, wenn ich daran denke die Wärme deines Körpers zu spüren, wenn du mich küsstest würde mein Atem stillstehen und mein Herzschlag verstummen, nur damit ich die Zeit anhalten könnte und du nie mehr von mir läßt.
Du glaubst garnicht wie anstengend es ist heimlich verliebt zu sein. Jeder Deiner Gesten und Blicke wieder und wieder zu überarbeiten, ins Detail auseinander zu nehmen und wieder aufzuarbeiten nur um einen kleinen Hinweis zu finden der darauf deuten könnte, dass du mich magst. Nur um im nächsten moment festzustellen das es wahrscheinlich doch nur freundlichkeit oder vielleicht Freundschaft ist. Was heißt nur Freundschaft. Ich hab mir manchmal überlegt dir einfachzu erzählen wie ich fühl, dass ich deine nähe such und mich bei dir wohl fühle, ohne irgendwelche Forderung an dich zu stellen. Vielleicht würdest du mir ja denn gefallen tun und mir die Nähe geben die ich mir wünsch – aus Freundschaft. Andererseits nennst du mich immer nur Bekannte, nie Freundin, aber ich weiß natürlich nicht, wie du dieses Wort definierst.
Dann wieder dachte ich, wenn es nur neugierde ist die mich treibt, vielleicht sollte ich es einfach durchziehen und dich verführen, womöglich wärst du nicht abgeneigt, aber ich bin nicht der richtige mensch um das zu tun. Und wenn es uns gefallen würde? Oder wenn du mich doch gern hättest, mir läge nichts ferner als ausgerechnet dich für ein ‚spiel‘ zu mißbrauchen. Außerdem bin ich mir doch sicher, dass ich es nicht verkraften würde. Denn ich kann mir diesen Unwust an Emotionen doch nicht wirklich einbilden. Wenn ich an dem Gefühl für dich zweifeln muß, müßte ich noch ganz andere Sachen in meinem Leben neu betrachten.

Anna hielt inne und holte tief Luft, ihr war schwindelig. Es fiel ihr zunehmend schwerer sich auf die Worte zu konzentrieren. Gierig trank sie aus das Glas mit dem Saft leer um ihre trockene Kehle etwas anzufeuchten. In einer kleinen Ecke ihres kopfes wurde ihr bewußt was sie hier eigentlich tat und es machte ihr Angst. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, aber schluckte sie wieder hinuter, die zeit des Weinens war vorbei. Sie würde nicht wieder weinen. Nie wieder. Mit etwas verschleiertem Blick sah sie zu ihrem Kleiderschrank, dort hing ein prachtvolles weißes Hochzeitskleid. Eigentlich hatte sie nie in weiß heiraten wollten, doch er hatte gesagt:“ Wir heiraten doch hoffentlich nur einmal in unserem Leben. Es soll was besonderes sein.!“ Und dann waren sie das Kleid kaufen gegangen. Es war wirklich wunderschön. Weiß wie die Unschuld. Anna ertappte sich dabei wie sie auf ihrem ohnehin schon blutig genagten Fingernägeln rumbiss. Das alles war irgendwie zu viel.

Nun gut. Jetzt ist es soweit, dass ich nicht mehr weiter weiß, mein Gefühl für dich zerreisst mich innerlich. Ich breche urplötzlich in Tränen aus , weil ich so verloren und hilflos fühle. Und kein Ufer in sicht, denn wie ichs mach, mach ichs falsch. Jetzt hab ich mich für die ehrlichste aller Lösungen entschieden, und ich denke es ist gut so.  Es gäbe wohl noch viele Sachen, die ich noch zu schreiben hätte, aber es wird Zeit…

Das Licht der Morgendämmerung viel durchs Fenster und begann den Raum zu erhellen.

… um mich auf den Weg zu machen. Hab schließlich noch was vor heute. So viel sei noch gesagt, Ich denke in Liebe an dich
                          Du wohnst ganz nah an meinem Herzen
                           wann immer ich die Augen schließe, seh ich dich
                            und manchmal wenn ich träume fühle ich dich…
                            …und dann möchte ich nimmer aufwachen.

                           In Liebe
                                            Deine
                                                          Anna

In ihren Ohren tobte ein leises klingeln, dass sich langsam mit einem Rauschen vermischte. Ihr Herz klopfte so schnell, daß es ihr schwer fiel ruhig zu atmen. Anna hielt ganz still und stierte auf die spitze ihres Füllers, auf dem sich langsam ein Tropfen azurblauer Tinte sammelte. Ihre Gedanken kreisten ohne das sie wirklich einen fassen konnte. Wie die Flut.Es erschien ihr unheimlich lange bis der Tintentropfen groß genug war, und mit einem unhörbaren ‚Platsch‘ auf das Papier kleckste.  Mühevoll erhob sie sich aus ihrem Stuhl als wäre der Tintentropfen ein Startschuss gewesen. Vorsichtig wankte sie ins Bad, ihr war kotzübel. Aber sie mußte noch etwas erlediegen. Sie frisierte sich, legte make up auf. Es war nicht gerade ein Meisterwerk was sie fabriezierte, Der Kajalstrich war verwackelt, der Rusch unregelmäßig verteilt und die schwarze Wimperntusche hatte kleine schwarze Flecken ober-, und unterhalb ihrer Augen hinterlassen. Doch als sie in den Spiegel sah war sie durchaus zufrieden. Alles was sie erkennen konnte fand sie wunderschön. Es war gut so. Als Anna wieder in ihr Zimmer gehen wollte stolperte sie und sie musste sich am Türrahmen einhalten um nicht zu fallen. So anstrengend, unglaublich anstrengend.
 Die Sonne stand schon knapp über dem Horizont als sie mit dem Ankleiden fertig war. Sie betrachtete sich im Spiegel. Wirklich wunderschön dieses Kleid.
Langsam ging sie wieder an den Schreibtisch zurück, faltet den Brief, steckte ihn in ein Kuvert und adressierte ihn. Dann nahm sie die letzte Schmerztablette aus der Packung ,würgte sie runter, und warf die leere Schachtel sorgsam zu den anderen in den Papierkorb. Es mochten an die 10 Verpackungen dort liegen. In ihrer, passend zum Hochzeitskleid schneeweißen und wunderschönen, Handtasche verstaute sie den Brief, ein paar lutsch Bonbons und die Rasierklinge, die sie aus Vaters Schrank genommen hatte.
Anna schlich so leise sie konnte aus dem Haus. Sie ging den kleinen Feldweg, zu dem Wald , der garnicht so weit weg von ihrem Heim lag. Ihre Stöckelschuhe blieben unterwegs liegen, sie hatte nicht mehr genug Gleichgewichtssinn um mit ihnen zu laufen zu können. Wie lange sie brauchte bis sie an der Lichtung war, auf der sie als Kind schon so gerne gespielt hatte. Konnte sie nicht sagen. Das Gefühl für Zeit war mit steigender Anzahl der Tabletten verloren gegangen.
Irgendwann fand sie sich, auf Wiese sitzend, an einem Baum lehnend, genau dort wo sie hin gewollt hatte. Anna öffnete ihre Handtasche, legte den Brief auf ihren Schoss, puhlte eines der Bonbons aus dessen Verpackung und schob es in den Mund. Wie unglaublich gut so ein Bonbon doch schmecken konnte. Als sie die Rasierklinge ansetzte um sich die pulsadern aufzuschneiden, stockte sie kurz. Vielleicht würde es wehtun. Dann dachte sie and die Schmerzen die ihr die letzte zeit zugefügt hatte und sie zuckte mit den Schultern. Außerdem dürfte sie genügend Schmerztabletten geschluckt haben. Keiner konnte ihr vorwerfen, dass sie nicht mitdachte.
Den Schnitt selbst spürte sie garnicht. Die klinge glitt butterweich durch ihre Haut in Ihr Fleisch und erfüllte ihre Aufgabe. Fasziniert beobachtet Anna, wie faktisch sofort aus der Öffnung die die Klinge hinterließ das blut hervorquoll.
„Lebenssaft, Lebenssaft, fließe fließe Lebenssaft.“ Murmelte sie leise.Dann ließ sie ihrem Arm auf das Kleid sinken, das die Flüssigkeit gierig aufnahm und ihm einen bizarren Anblick verlieh. Mit der anderen Hand drückte sie ihren Brief ansich. Nicht das sich die Adresse verwischte. Sie schloß ihre Augen und es dauerte nicht lange und sie fiel in einem Dämmerzustand in dem sie viele Sachen sah. Mit Leuten sprach, fremden und bekannten. Alles war irgendwie unsinnig fand sie. Schließlich schlief sie ein. Sie träumte von ihm, davon dass er sie im Arm hielt und sie schützte und sie war unendlich glücklich. Hätte sie jemand gesehen hätte er ein kleines Lächeln auf ihren Lippen bemerkt, dass auch nicht verschwand, als ihr Herz aufhörte zu schlagen.

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